Zur soziologischen Relevanz von O. Spenglers Morphologie der Weltgeschichte
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Die Annahme, naturwissenschaftliche Methoden auf soziale Phänomene anzuwenden, steht im Zentrum des Projekts Soziologie. Ziel war es, objektive Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zu entdecken, um soziale Prozesse prognostizieren oder kontrollieren zu können. Allerdings zeigt sich, dass die hohe Komplexität und Unvorhersehbarkeit sozialer Dynamiken den Anspruch auf präzise Vorhersagen der rationalistischen Ansätze in Frage stellen.
Textprobe: Kapitel 1: Intuition gegen Analyse Zu den Vordenkern seines
intuitivistischen Paradigmas zählte Spengler Nietzsche und in noch höherem
Grade Goethe: Von Goethe habe er die Methode, von Nietzsche die
Fragestellungen. Von Goethe übernahm Spengler auch den zentralen für seine
Theorie Morphologie-Begriff. Morphologische Erkenntnismethode lässt sich als
ein kognitiver Modus interpretieren, der die Korrespondenz zwischen extra- und
intrapsychischen Phänomenen voraussetzt und den Forscher zur Anschauung der
einheitlichen organischen Formen hinter den einzelnen Natur- und
Sozialphänomenen befähigt. Morphologie war ursprünglich eine Art Goethes
Antwort auf das Verlangen des wissenschaftlichen Menschen, die lebendigen
Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern sichtbaren, greiflichen Teile im
Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Inneren aufzunehmen und so
das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen. [...] Man findet
daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissenschaft mehrere
Versuche, eine Lehre zu gründen, welche wir die Morphologie nennen möchten.
(J.W. Goethe: Botanik [1807] in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 17. Zürich 1977,
S. 13. In: Felken 1988:52) Konstitutiv für die Morphologie ist also Einfühlung
des erkennenden Subjekts in die Ganzheit der Phänomene statt deren
analytischen Zerlegung in Elemente. Goethe glaubte durch den intuitiven
Vergleich der variierenden biologischen Formen einem Typus bzw. einem
Urphänomen als einer idealen Form beikommen zu können. Spengler überträgt
dieses Prinzip auf die Historie, wo er hinter der Vielfalt der miteinander
korrelierenden politischen, wirtschaftlichen, technischen, sozialen,
künstlerischen u. a. Erscheinungen eine morphologische Totalität, eine Kultur,
erkannt zu haben glaubt. Das Projekt Morphologie der Weltgeschichte
radikalisiert somit die epistemologischen Annahmen bisheriger intuitivistisch-
historischen Ansätze, etwa die des Ahndungsvermögen(s) - wie es Humboldt
forderte oder des Akt(es) des Verständnisses - welcher nach Droysen als
unmittelbare Intuition erfolge, als tauche sich die Seele in Seele,
schöpferisch wie das Empfängnis in der Begattung. (J.G. Droysen: Historik.
München/Wien 1977, S. 329) Spenglers Morphologie unterscheidet sich jedoch
sowohl von Goethe als auch von den Repräsentanten des Historismus dadurch,
dass sie das intuitive Prinzip vom rationalen abkoppelt und zur historischen
Erkenntnismethode schlechthin erhebt. Felken erblickt in dieser
Gegenüberstellung von Intellekt und Intuition Spenglers Nähe zur
Lebensphilosophie: Der Gegensatz zwischen einer schöpferischen Einfühlung und
einem in der bloßen Extension der Erscheinung verharrenden Intellekt wurde von
Bergson bis Ludwig Klages die stereotype Formel für den Angriff auf die
wachsende Rationalisierung der Lebenswelt in der Moderne. (Ebd., S. 51).
Dilthey-Schüler Manfred Schröter, durch den Spengler an die Philosophie des
Lebens herangeführt wurde, ordnet den Untergang des Abendlandes als
intellektuelle Blüte und gleichzeitig Abschluss des sich metaphysisch
ausdrückenden Kulturbewusstseins einer einheitlichen geistigen Gemeinschaft
einer viel älterer Tradition zu. In diesem Bogen des Entwicklungsganges der
neueren Metaphysik folgen drei entscheidende, im Genius sich aussprechende
Entwicklungsstufen aufeinander: ...Die aufsteigende Dreiheit Jakob Boehme,
Leibnitz, Kant, die Dreiheit der idealistischen Vollendungshöhe Fichte,
Schelling, Hegel und die absteigende Dreiheit Schopenhauer, Nietzsche,
Spengler. (Schröter 1949:227) Die Originalität der Spenglerschen Theorie und
zugleich ihr eklektischer Charakter machen deren Rückführung auf eine
bestimmte Tradition problematisch, mag sie so weit gefasst sein wie die späte
deutsche Metaphysik oder unmittelbar wie die Lebensphilosophie. Die
Hervorhebung des metaphysischen Elements in Spenglers Theorie und dessen
lebensphilosophischen F