Wolfgang Wittkowski Libri






Beachtet man die lange vernachlässigten Phänomene ethischer Natur, befreien sich zentrale Werke Goethes von weitergeschleppter altväterischer wie neumodisch-ideologischer Verfälschung. Sie geraten auf die Füße und erweisen Goethes menschliche, ästhetische und politische Weisheit als so allgemeingültig, daß sie heute eher noch aktueller, unentbehrlicher erscheint. Äußerlich angepaßt und diplomatisch, opponierte der Dichter subversiv. So rebelliert Iphigenie gegen religiösen und weltlichen Autoritätsmißbrauch, desgleichen die unerhört analytische Liebestragödie Tasso gegen Hofdünkel. Angeblich unpolitisch, bewährt Egmont ethisch-politisches Genie in Anlehnung an Machiavelli. Der schlichte Hermann übertrifft Dorotheas imponierenden ersten Verlobten und Sympathisanten der Revolution. Die natürliche Tochter, Faust entlarven Betrug und Machtwillen hinter schönklingenden Parolen. Mit umsichtiger Diätetik der Seele, der Ethik und seiner polar ausbalancierten Kunst warnt Goethe vor dem Menschen, der an anderen zum Wolf, und rühmt ihn, wo er an ihnen zum Gott, zur Göttin wird.
Manche Romantiker drucken Leidenschaft und deren Bandigung mit musikartigen Mitteln aus - hier Friedrich Schlegel und E.T.A. Hoffmann. Die psychologisch versierten Realisten tun es durch den rhythmischen Atem des Erzahlens, des Dramas; ferner mit Skepsis, Resignation, Humor, den unvermeidlichen Konsequenzen: Keller, Raabe, Fontane - oder auch durch Kunst: Eichendorff und Morike. Verhalten beschwort Stifter den Vulkanismus der Herzen und den Ruckschlag der naturlichen Gesetze. Schockiert wird das Biedermeier-Bild durch Jedermannsfiguren, geliefert von dem Agnostiker Grillparzer in der Perspektive der Welttheaterbuhne, von der katholischen Droste-Hulshoff und dem pietistischen Protestanten Buchner. In zunehmend glaubensloser Zeit verweisen alle drei mit versteckten Signalen der Liturgie auf den Sinn der umstrittenen Schlusse.
Durch textnahe Lekture und Charakteranalyse korrigieren die hier uberarbeiteten Werkinterpretationen die von der Ideologie der 68er motivierte pauschale Denunzierung der Hausvater im Drama des 18. Jahrhunderts: Diese Verwalter des unterdruckerischen burgerlichen Familienwertsystems handeln angeblich tyrannischer als Monarchen und -handeln- sogar mit der Unschuld der Tochter. Ihr voyeuristisches, ja inzestuoses Interesse verhinderte gerade deren sexuelle Selbstverwirklichung. Fast durchweg gilt jedoch die vernunftige humane Ethik des Christian Thomasius (ihr entnahm Lessing seine Plots): Die oft rauen Vater respektieren ihre Tochter, lieben sie -zartlich- wie diese sie; die Tochter teilen die Anschauungen der Vater und leiden unter dem Kummer, den sie ihnen bereiten. Gegenpole bilden die exemplarischen Hausvater ohne Tochter: Minna von Barnhelms glucklicher Tellheim und der Held der ersten und dustersten deutschen politischen Geschichtstragodie Gotz von Berlichingen ."
Kleists Dramen- und Erzählfiguren, Männer und besonders Frauen, wiederauferstanden aus Krisen, erstehen als Retter und Helden des Guten und Wahren auch im Erliegen gegen die Gewalttätigkeit von Männern und Mächten. Kleists Eroberer-, Autoritäts- und Ideologiekritik operiert ironisch verborgen, spielt im Kohlhaas auf die preußischen Rechtsreformen an und rechtfertigt den Helden durch geheime Bibel-Analogien. Das Ringen um die meist überzeugende Lesart erfordert eingehende Auseinandersetzung mit der zeitgeistgebundenen Forschung. Alle Interpretationen sind Überarbeitungen früherer Veröffentlichungen.
Die überarbeiteten Aufsätze des humanistischen Agnostikers Wittkowski über Georg Büchner antworten der geläufigen Atheismus-Deutung des angeblichen Marx-Vorläufers mit der These eines ethisch-religiösen Engagements für gesellschaftlichen Fortschritt. Gegen einen ethisch indifferenten oder brutalen Zynismus ebenso wie gegen das konventionell-bequeme Christentum beschwört Büchner die pietistische Härte des Ärgernis-Evangeliums und die philosophische Metaphysik des verborgenen Gottes – allerdings ironisch so versteckt, daß Mißverständnisse unterlaufen können – und auch Quittung für ethisches Versagen der Figuren und zugleich der Leser, wenn sie gleichfalls nicht erkennen und damit auch die ethische Bewährungsprobe nicht bestehen. Derart schuf Gott die menschliche Natur, deren Folgen er dennoch richtet. Wie der gleichfalls 1813 geborene Hebbel (-1863) wirft Büchner (-1837) die Dialektik des Lebens in die Gottheit selbst und führt damit die deutsche metaphysische Tragödie an ihr Ende. Nur geht ihm zufolge der Mensch durch Schmerz und Leiden ein zu Gott.
Die in diesem Band versammelten und zum Teil erheblich uberarbeiteten Aufsatze des Autors zeigen, da die Geschichtstragodien Hebbels ihre Themen uberzeitlich gestalten und sich daher lesen wie Kommentare, ja Lehrstucke zu aktuellen Problemen. Neben erotischer und ehelicher Kommunikation sind das z.B. die politisch-militarischen Verfahren um 2000; kollektive Selbstzerstorung durch Tauschung und Gewalt; Kriegermentalitat; Ideologie- und Autoritatshorigkeit; bornierte Sexual- und Reputationsmoral usw. Wertverhaltnisse, -konflikte und deren Losungen, Tragik und Tragik-Attitude ergeben: Der Betruger wird betrogen - Mensch und Masse wollen es werden. Der Dualismus, die Kehrseite aller Dinge, allen Rechts, stimmt pessimistisch und fordert unermudliches Bemuhen der Regenten, die Hebbel immer idealer entwirft. - Ethische Psychologie interpretiert die Dialoge und die Wandlungen der Hauptfiguren.
Immer schlüssiger, rebellischer und kunstvoller vermitteln einige deutsche Dichter von U. Johnson ( Jahrestage ) über A.v. Droste-Hülshoff ( Judenbuche ) bis Kleist ( Kohlhaas ) ihr verborgenes und daher umstrittenes Urteil über das Geschehen durch verworrene Gebotsnummern (Fontane) und vor allem durch Daten, die – über religiöse Feste und die Liturgien – auf Bibelstellen verweisen. Deren rigorose Appelle und Drohungen stützen – gleichsam unsichtbar, vom Himmel – mit metaphysischer Autorität die gewöhnlich nicht befolgten, unscheinbaren Mahnungen zu ethischer Humanität. Ethisches und Lese-Urteil werden Bewährungsproben unterworfen, vor denen die heutige Kritik immer mehr versagt.